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Auch im Zeitalter von Big Data sind sozialwissenschaftliche Surveys und Panelinfrastrukturen für die sozialwissenschaftliche Forschung und als Grundlage für eine empirisch fundierte Politikberatung eine essentielle Ergänzung zu amtlichen Daten. Sie sind repräsentativ und decken relevante Themen mit wissenschaftlich validierten Messinstrumenten ab. Darüber hinaus erforschen sie auch Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale der Befragten, können als Wiederholungsbefragungen Veränderungen individueller Lebensverläufe dokumentieren sowie potenziell auch kausale Mechanismen aufdecken.
Diese wissenschaftsgetragenen Infrastrukturen stehen in den letzten Jahren jedoch vor fundamentalen Herausforderungen, die zugleich auch Chancen darstellen. Dazu zählen die sinkende Teilnahmebereitschaft und steigende Befragungskosten, aber auch die Möglichkeiten der Digitalisierung für Erhebungen, die Verknüpfung von Datensätzen und die Einbeziehung multidisziplinärer Perspektiven.
Die Publikation zur „Zukunft sozialwissenschaftlicher Surveys und Panelstrukturen“ von Prof. Dr. Gert G. Wagner und Prof. Dr. Martin Bujard diskutiert nach einem Überblick über die einschlägige deutsche Surveylandschaft die zentralen Herausforderungen, Entwicklungsmöglichkeiten und Chancen sozialwissenschaftlicher Surveys und Panels.
Wagner und Bujard stellen fest, dass selbst die enorm gewachsenen Datenmengen von Big Data die Aufgaben von Surveys und Panelinfrastrukturen nicht ersetzen können. Denn im Hinblick auf wissenschaftliche Fragestellungen und Gütekriterien dürfen Daten nicht verzerrt sein, sondern sollen für die Gesamtheit einer Population und für deren (relevante) Teilgruppen repräsentativ sein. Zudem müssen die erhobenen Daten die für die verschiedenen wissenschaftlichen Fragestellungen relevanten Informationen (Variablen) überhaupt und zudem valide enthalten. Beides ist bei für kommerzielle Zwecke oder im Internet erhobene Daten beinahe systematisch nicht der Fall.
Amtliche Statistiken bietet mehrere hervorragende Datensätze, die entweder auf Auskunftspflicht (wie bei Zensus und Mikrozensus) oder aber auf offiziellen Meldungen von Behörden (Beispiel Geburtenstatistik) basieren. Sie gründen auf sehr hohen Fallzahlen und erfassen dabei auch Bevölkerungsgruppen besser, bei denen klassische Surveys geringere Antwortrückläufe haben (beispielsweise bei Personen mit niedriger Bildung oder Migrationshintergrund). Allerdings müssen auch amtlich durchgeführte Bevölkerungsstichproben, bei denen die Befragten keiner Auskunftspflicht unterliegen, mit den gleichen Herausforderungen in Bezug auf den Rücklauf kämpfen wie alle anderen Surveys. Der Anspruch, dass es allgemein gültige, sozusagen objektiv richtige Datenerhebungen gäbe, kann daher auch von amtlichen Ehebungen nicht eingehalten werden.
Darüber hinaus lässt sich nicht zentralamtlich oder gar gesetzlich entscheiden, welche Fragestellungen wissenschaftlich und gesellschaftlich interessant und relevant sind. Dies hängt vielmehr von unterschiedlichen Interessen und Einschätzungen ab.
Sozialwissenschaftliche Erhebungen unterliegen immer wieder methodischen und inhaltlichen Herausforderungen, denn sowohl Erhebungsmethoden als auch inhaltliche Fragestellungen verändern sich fortlaufend. Für Wagner und Bujard steht fest: Die Entwicklung und Erprobung inhaltlicher und methodischer Neuerungen ist in erster Linie Aufgabe der Wissenschaft. Kleine und große sozialwissenschaftliche Studien werden sich auch weiterhin unabhängig voneinander entwickeln – und diese Heterogenität ist in diesem Fall auch gut.
Dazu kommt, dass die Befragten nicht zeitlich überfordert werden dürfen. Bei persönlichen Interviews gilt eine Stunde als Obergrenze, bei webbasierten Befragungen sollten 20 bis 30 Minuten je Erhebungssession nicht überschritten werden. Dadurch werden die Inhalte der Befragung begrenzt, woraus Wagner und Bujard ableiten, dass es verschiedene spezialisierte Erhebungsprogramme mit inhaltlich (und methodisch) unterschiedlichen Schwerpunkten geben sollte.
Als größte methodische Herausforderung bei repräsentativ angelegten freiwilligen Erhebungen identifizieren Wagner und Bujard die Nichtteilnahme - sei es die Unit-Non-Response (vollständige Nichtteilnahme) oder die Item-Non-Response (Weigerung, einzelne Fragen zu beantworten). In den letzten Jahrzehnten ist die Unit-Non-Response stark angestiegen – auf etwa 70% bei wissenschaftlich hochwertigen Erhebungen (und auf über 90% bei kommerziellen Telefonbefragungen). Daher bedarf der finale Datensatz einer Gewichtung, die unterschiedliche Teilnahmewahrscheinlichkeiten möglichst ausgleicht.
Die größten Analyseprobleme bereiten Gruppen, die gar nicht an Befragungen teilnehmen oder nur zu geringen Anteilen, was wiederum in ungewichteten Stichproben zu nicht auswertbaren kleinen Fallzahlen führt. Typischerweise wird gar nicht erst versucht, Wohnungslose zu befragen. Ähnliches gilt für Menschen, die in Gemeinschaftsunterkünften (zum Beispiel Altenheimen) oder Anstalten (etwa Gefängnissen) leben. Bei reinen Online-Erhebungen wird die Offline-Population, das sind häufig ältere Personen, systematisch ausgeschlossen. Migrantinnen und Migranten sind zwar nicht systematisch ausgeschlossen, jedoch sind die Response-Raten dieser Bevölkerungsgruppe häufig aufgrund von Sprachproblemen in der Regel geringer als bei deutschsprachigen Befragten.
Wagner und Bujard gehen davon aus, dass der Aufwand für die Rekrutierung der Befragten bei großen bevölkerungsrepräsentativen Stichproben eher zunehmen wird. Es dürfte daher künftig mehr Spezialbefragungen für kleine und schwer befragbare Gruppen in der Bevölkerung geben.
Internetbasierte Erhebungsmodi werden bereits in mehreren Erhebungen eingesetzt. Dieser Trend wird zunehmen, auch aufgrund der deutlich geringeren Kosten und der vergleichbaren Qualität. Außerdem eröffnen webbasierte Befragungen hochinteressante neue Möglichkeiten; so kann unter anderem der aktuelle Rand erreicht und somit die Aktualität von Ergebnissen verbessert werden.
Unterjährige Erhebungen werden erleichtert und dürften zunehmen. Sowohl auf regulärer Basis als auch für aktuelle Ad-hoc-Erhebungen können Online-Befragungen sehr gut und effizient genutzt werden. Das gilt auch für eventbezogene Online-Erhebungen, die zum Beispiel auf individuelle Ereignisse wie Arbeitslosigkeit oder Trennung vom Partner oder der Partnerin zeitnah reagieren können.
Der Pool von Panelbefragten kann und wird für qualitative Erhebungsverfahren mehr und mehr geöffnet werden. Das wiederum wird zu mehr Texten in den Datensätzen führen, die mit verschiedensten Methoden ausgewertet werden können.
Neben der Online-Erhebung werden auch weitere Datenformen eine wachsende Rolle spielen, prognostizieren die Autoren. Dazu zählen etwa Videomaterial oder medizinisch-biologisch relevante Daten (zum Beispiel die Auswertung von Bewegungsprofilen durch spezielle Apps auf dem Smartphone). Auch die Verknüpfung mit prozessproduzierten Daten, etwa mit denen der elektronischen Patientenakte, dürfte demnach zunehmen.
Und schließlich ermöglichen webbasierte Erhebungen auch experimentelle Komponenten in Surveys (oder in deren Innovationsstichproben). So ist es vergleichsweise einfach, mit kleineren Subgruppen des Panels Experimente durchzuführen.
In Zukunft, so Wagner und Bujard, werden biologisch-medizinisch relevante Daten zunehmend mit sozialwissenschaftlichen Ehebungen verknüpft. Auch verhaltensbiologische und psychobiologische Messwerte könnten in Studien einfließen, um zum Beispiel Fragen zum Wohlbefinden im Hinblick auf Risiko- und Resilienzfaktoren zu untersuchen.
Eher skeptisch beurteilen die Autoren die Erhebung von Speichel- oder Blutproben zur Gewinnung von Genommaterial der Befragten, da sozialwissenschaftliche Erhebungen nicht über ausreichend großen Stichproben für genetische Entdeckungsstudien verfügen.
Verknüpfung von Mikrodaten mit anderen Datensätzen Eine personengenaue Verknüpfung von Mikrodaten dagegen wird nach Einschätzung der Autoren in Zukunft eine größere Rolle spielen. Eine ganze Reihe von Informationen sind schwer zu erheben. Dies gilt insbesondere für den Konsum, die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen, aber auch für Einkommen und Mobilitätsverhalten der Befragten. Allerdings gibt es dafür derzeit keine gesetzliche Grundlage, die solche Verknüpfungen erlauben würde.
Bereits heute ist es jedoch möglich, Surveydaten mit ausgewählten prozessproduzierten Daten zu verknüpfen, wenn die Befragten explizit zustimmen. So sind einige Surveys mit den Daten der gesetzlichen Rentenversicherung und der Bundesanstalt für Arbeit verknüpft. Dass es eine gesetzliche Situation geben wird, die es erlauben würde, alle wissenschaftlich interessanten Datensätze ungefragt mit einander zu verknüpfen, kann man jedoch - zu Recht – ausschließen.
Sozialwissenschaftliche Surveys und Panelinfrastrukturen haben weiterhin eine hohe Relevanz für Grundlagenforschung und Politikberatung. „Big Data“ kann diese keinesfalls ersetzen, da repräsentative Aussagen nur durch gezielt angelegte Erhebungen erreichbar sind.
Amtliche Daten aus Zensus und Mikrozensus bieten eine gute Grundlage, um die auf freiwilligen Angaben der Befragten basierenden Surveydaten zu gewichten. Internetbasierte Erhebungsformen stellen für die Befragung kein grundsätzliches Repräsentativitätsproblem dar. Solange jedoch bestimmte Bevölkerungsgruppen stark unterschiedlich und zudem sozial selektiv nicht über das Internet erreichbar sind, sind nicht netzbasierte Erhebungsmodi für bevölkerungsrelevante Aussagen nach wie vor notwendig.
Digitale Erhebungen haben unter anderem den Vorteil, dass sie zeitnah für den aktuellen Rand erhoben und aufbereitet werden können. Für schwer zu erhebende und aufwendig aufzubereitende Konstrukte werden aber Nowcasts weiterhin notwendig sein.
Die Psychologie könnte für große Surveys und Panelstudien künftig eine größere Bedeutung gewinnen. Die Hinzunahme einiger psychologischer Konzepte (wie die „Big Five“ oder Kontrollüberzeugungen) haben die prognostische Relevanz dieser psychologischen Variablen deutlich gemacht. Zudem wird innerhalb der Psychologie die Aussagefähigkeit von kleinen (studentischen) Stichproben mittlerweile stark angezweifelt. Große Surveys werden daher für das Fach zunehmend interessant.
Die Auswahl relevanter neuer Items, die innovative Publikationen ermöglichen, bleibt die strategische Hauptaufgabe der Leitung von Dateninfrastrukturen. Der Wettbewerb, die innovativsten Items aus mehreren Fachdisziplinen frühzeitig zu erkennen, wird zunehmen. Die Existenz mehrerer Panelinfrastrukturen und die zunehmende Professionalisierung und Europäisierung wird dazu führen, dass der Vergleich und das Benchmarking zunehmen.
Die Vernetzung und Dissemination von Ergebnissen ist für Panelstrukturen von zentralem Interesse. Daher sind unter anderem Nutzerkonferenzen und Lehrveranstaltungen, aber auch Pressearbeit und Social Media wichtige Aufgaben für Surveys. Außerdem ist eine enge Vernetzung mit der Politik geboten, um Bedarfe zu erfahren und aktuelle Daten in politische Prozesse einbringen zu können.
Die vollständige Publikation zur „Zukunft sozialwissenschaftlicher Surveys und Panelstrukturen“ von Prof. Dr. Gert G. Wagner und Prof. Dr. Martin Bujard finden Sie hier.
Informationen zu einer Diskussionsveranstaltung über die „Zukunft sozialwissenschaftlicher Surveys und Panelinfrastrukturen“, die im Rahmen der wissenschaftlichen Fachtagung „Daten.Forschung.Zukunft" am 6. Juli 2023 in Wiesbaden stattgefunden hat, können Sie hier nachlesen. An der Veranstaltung nahmen neben FReDA-Projektleiter Prof. Dr. Martin Bujard auch Prof. Dr. Cordula Artelt, Prof. Dr. Gert Wagner und Prof. Dr. Christof Wolf teil.
Gert G. Wagner steht für den Aufbau und die Weiterentwicklung von Panelstudien in Deutschland. Über Jahrzehnte hinweg hat er das Sozio-Oekonomische Panel (SOEP) geleitet, geprägt und mit zahlreichen innovativen Ideen weiterentwickelt – so dass es zu einer der weltweit bedeutendsten sozialwissenschaftlichen Panelstudien wurde. Am 28. Januar 2024 ist Gert G. Wagner gestorben. Die Sozialwissenschaften verlieren einen ihrer bedeutendsten Wissenschaftler seiner Generation und das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung einen seiner ersten Fellows.
Auch FReDA hat von seiner großen Expertise profitiert. Dafür danken wir ihm und werden auch nach seinem viel zu frühen Tod von vielen seiner Ideen weiterhin inspiriert bleiben.
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